Der Interdisziplinäre Grundkurs (IGK) im Fachbereich Sozialökonomie der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg gestaltet die Integration von KI in die Hochschullehre seit Oktober 2023 aktiv. Bereits im zweiten Durchgang nutzen Erstsemester-Studierende hier freiwillig KI-Tools wie ChatGPT, ChatDOC, Claude oder Gemini, um über wirtschaftspolitische Fragestellungen zu recherchieren, zu brainstormen und zu schreiben.
Was ist der IGK?
Der Interdisziplinäre Grundkurs (IGK) richtet sich an Studierende im ersten Studienjahr des Bachelors Sozialökonomie an der Universität Hamburg. Das Besondere: Hier steht nicht allein Fachwissen im Vordergrund, sondern vor allem das wissenschaftliche Arbeiten. Der Kurs ist unbenotet, sodass die Studierenden in einem geschützten Rahmen experimentieren können, ohne Prüfungsdruck.
Auch werden immer mehrere Kurse mit Themenschwerpunkten parallel angeboten, sodass der Kurs mit KI-Fokus eine Wahlmöglichkeit unter mehreren darstellt.
Die KI-basierte Veranstaltung konnte mit Mitteln des Förderprogramms „Digitale Lehre“ der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg entwickelt werden, die Marianne Saam, Inhaberin der Professur für VWL, insb. Digitale Wirtschaftswissenschaft, beantragt hatte. Mark Spektor entwickelte als wissenschaftlicher Mitarbeiter das Konzept gemeinsam mit den Hilfskräften David Bechler und Sebastian Lorenz und unterrichtet nun im dritten Semester in Folge in dem zweisemestrigen Kurs.
Kursaufbau: Einführung in eigenes wissenschaftliches Arbeiten in zwei Semestern
Der IGK erstreckt sich über zwei Semester und führt schrittweise an das eigenständige wissenschaftliche Arbeiten heran, bewusst bereits ganz zu Beginn des Studiums. An der Professur für Digitale Wirtschaftswissenschaft sieht der Aufbau wie folgt aus:
IGK 1 (Wintersemester)
- Entwicklung einer selbstgewählten wirtschaftspolitischen Fragestellung
- Methodische Grundlagen (Recherche, Argumentation, Präsentation)
- Erste Seminarpräsentationen zu Themen wie „Wachstumstheorien“ oder „Nachhaltigkeit“
IGK 2 (Sommersemester)
- Vertiefung der Methodenkompetenz
- Verfassen einer ersten wissenschaftlichen Hausarbeit (z. B. zu Innovation, Digitalisierung oder Klimapolitik)
- Kritische Reflexion der Anwendung von KI-Tools in der Literaturrecherche und beim Schreiben (mit Offenlegung)
Der Kurs verpflichtet niemanden, KI-Tools einzusetzen. Stattdessen steht es den Studierenden frei, die Tools zu nutzen und so – je nach Vorwissen – damit zu experimentieren.
ChatGPT wurde im November 2022 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Nur wenige Monate später, im Sommersemester 2023, waren erste KI-Impulse bei den Studierenden deutlich spürbar im IGK der Professur. Er fand damals noch ohne KI-Konzept statt. Dank des WiSo-Förderprogramms konnte der bestehende IGK für den kommenden Durchgang „mit KI für KI“ weiterentwickelt werden. Das bedeutet, das Projektteam nutzte selbst KI-Tools, um die Erstellung von Lehrinhalten zu unterstützen.
Didaktische Gestaltung gemäß „Lehrpfad“ des HUL
Die didaktische Gestaltung dieser Lehrveranstaltung lässt sich anhand des Reflexionsinstruments Lehrpfad (entwickelt von Nadia Blüthmann, Gabi Reinmann und Angela Sommer am HUL) wie folgt beschreiben.
Eine Erklärung der Design-Begriffe im Lehrpfad sowie das zugrundeliegende Modell finden Sie hier in einer erklärenden Grafik.
Bitte klicken Sie in der nachfolgenden Abbildung die Ausrufezeichnen an:
Alternativ finden Sie hier eine Darstellung als Lehrpfad im PDF-Format (nicht barrierefrei)
Zur Person

Foto: ZBW/Max Kovalenko
Prof. Dr. Marianne Saam ist seit September 2021 Inhaberin der Professur für Digitale Wirtschaftswissenschaft am Fachbereich Sozialökonomie und Leiterin des Programmbereichs „Open Economics“ an der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft.

Mark Spektor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Marianne Saam. Er hat im Jahr 2022 seinen Master of Science in Economics an der UHH abgeschlossen. Davor verbrachte er ein Auslandsjahr an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. Seinen Bachelor of Science in Internationaler Betriebswirtschaft absolvierte Mark Spektor im Jahr 2016 an der Wirtschaftsuniversität Wien.
„Fahrstunden“ und „Verkehrsregeln“
Die Studierenden bringen sehr unterschiedliche Vorkenntnisse mit: Einige sind bereits routiniert mit ChatGPT & Co., andere nähern sich dem Thema erst im Kurs oder sind sehr skeptisch. Um allen eine gute Basis zu bieten, ist jede Sitzung zweigeteilt:
Erster Teil: Kurzer Input zu einem Fachthema (z. B. Wachstumstheorien, Klimapolitik, Definitionen von Innovationen) oder zu einem Aspekt des wissenschaftlichen Arbeitens (z. B. Literaturrecherche, Argumentationsstrukturen, Zitierregeln).
Zweiter Teil („Fahrstunden“): Übungsphase mit optionalem Einsatz von KI-Tools. Die Studierenden probieren verschiedene Tools aus, um Forschungsfragen zu entwickeln, Strukturentwürfe zu erstellen oder Textvorschläge kritisch zu bewerten.
Mit der Idee der „Fahrstunden“ möchte das Kursteam die Studierenden dazu ermutigen, verschiedene Tools, die auf Large-Language-Modellen basieren, gezielt gegeneinander einzusetzen. Dabei wird eine Fragestellung samt Antwort aus einem System wie ChatGPT in ein anderes, etwa Gemini oder Claude, übertragen. Dieses zweite System prüft die Antwort, ergänzt sie oder weist auf mögliche Unstimmigkeiten hin. Anschließend kann die überarbeitete Antwort in ein drittes System oder zurück in das erste eingespeist werden, um den Prozess fortzuführen.
Dieser iterative Ansatz – auch als Cross-Evaluation bezeichnet – nutzt die unterschiedlichen Stärken und Schwächen der Systeme, Schwächen aufzudecken und eine präzisere oder facettenreichere Analyse zu ermöglichen. Dabei wird den Studierenden verdeutlicht, dass diese Methode nicht nur die Qualität der Ergebnisse verbessert, sondern auch ihre Fähigkeit zur kritischen Reflexion und Fehlererkennung schärft.
Gleichzeitig gilt es „Verkehrsregeln“ zu klären: Datenschutz, Urheberrechtsschutz und wissenschaftliche Standards, wie etwa eine sorgfältige Zitation und die Offenlegung des KI-Einsatzes, sind essenziell. Auch besteht eine besondere Herausforderung für Erstsemester darin, zu einem früheren Zeitpunkt des Studiums damit umzugehen, dass KI wissenschaftliche Erkenntnis teilweise in einer Weise wiedergibt, die unpräzise, inhaltlich falsch oder gar „halluziniert“ ist. Das Kursteam sieht jedoch keinen Vorteil darin, die Ausbildung des dazu notwendigen Urteilsvermögens auf spätere Abschnitte des Studiums zu verschieben. Ein wesentlicher Grund ist, dass wir eine zunehmende KI-Nutzung in Hausarbeiten auch ohne Anleitung im Kurs beobachtet haben. Ziel des Kurses ist es, die Studierenden zu befähigen, KI-Tools nicht nur als Hilfswerkzeug zur Generierung fertiger Versatzstücke, sondern als aktiven Teil eines kritischen und iterativen Denkprozesses zu nutzen.
Themenbeispiele
Inhaltlich deckt der IGK ein breites Spektrum wirtschaftspolitischer Themen ab. Einige Präsentationsthemen oder Hausarbeitsthemen aus IGK 1 und IGK 2 lauten:
- „Wie beeinflusst die zunehmende Automatisierung durch KI die Arbeitsplatzstruktur in der Automobilindustrie?“
- „Welche wirtschaftspolitischen Instrumente können zu einer nachhaltigeren Mobilität beitragen?“
- „Inwiefern beeinflusst die Digitalisierung die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen?“
- „Ist eine Subventionierung von E-Autos aus ökologischer Sicht sinnvoll?“
- „Wie lassen sich durch staatliche Maßnahmen Innovationen fördern, ohne soziale Ungleichheiten zu verschärfen?“
Resonanz und Weiterentwicklung
Seit der ersten Integration von KI in das Kurskonzept (WS 2023/24) zeigen Erfahrungen, dass viele Studierende den KI-Einsatz als sinnvolle Ergänzung begreifen. Sie berichten, dass Tools wie ChatGPT oder Copilot beim Ideenfinden helfen und den Einstieg in komplexe Themen erleichtern. Gleichzeitig betonen sie, dass die Nutzung von KI-Tools keine Abkürzung für wissenschaftliche Sorgfalt ist: Das Verstehen, Bewerten und präzise Dokumentieren bleibt unerlässlich. Gerade der Kontrast aus Effizienz und kritischer Reflexion macht im Idealfall den Lernerfolg aus.
Seit Frühjahr 2024 steht mit UHH-GPT auch ein datenschutzkonformes Tool zur Verfügung, das keine Personendaten aus der Universität herausgibt und das keine eingegebenen Informationen zum Modelltraining nutzt. Das weitet die rechtlich zulässige Nutzung für die Analyse von Textauszügen oder Volltexten geringen Umfangs mit einer CC-BY-Lizenz aus. Eine CC-BY-Lizenz erlaubt die Nutzung, Veränderung und Weitergabe eines Werks, solange die korrekten Angaben gemäß den Regeln von Creative Commons gemacht werden (https://creativecommons.org/share-your-work/cclicenses/).
Ausblick
Die Professur für Digitale Wirtschaftswissenschaft stellt alle Kursmaterialien – beispielsweise Aufgabenblätter, Beispiele zu Prompt-Strategien und didaktische Hinweise – als Open Educational Resources (OER) zur Verfügung (Veröffentlichung folgt). Da ständig neue Tools erscheinen, wird der Kurs laufend aktualisiert.
Mark Spektor nutzt gern eine Kombination verschiedener Tools. ChatGPT o1, Gemini und Claude haben jeweils ihre Stärken. Warum sich für ein einziges Tool entscheiden, wenn mehrere „Expertinnen und Experten“ an einem Tisch versammelt werden können? Indem er Antworten zwischen den Systemen hin- und herschiebt, spüre er eventuelle „blinde Flecken“ auf und kommt zu besseren Ergebnissen. Marianne Saam ist selbst noch nicht ganz so vertraut mit KI-Tools wie ihr Mitarbeiter. Sie beschreibt den eigenen Forschungsprozess als „old school“: Suchmaschinennutzung, Abstracts lesen, minutiöses Studium einzelner Textpassagen, handgetippte Exzerpte in Tabellen und Fließtext. Gleichzeitig hat sie sich von den Erfahrungen des IGK inspirieren lassen, mehr mit KI-Tools zu experimentieren.
Dieser Blogbeitrag wurde in einem Kombinationsansatz unter Zuhilfenahme von mehreren KI-Systemen geschrieben und danach überarbeitet. Informationsgrundlage für die KI waren systeminterne Daten, die unten genannten Quellen sowie Textpassagen von David Bechler. Genutzt wurden ChatGPT o1, ChatGPT 4o, Claude 3.5 Sonnet, Gemini Experimental 1206, Gemini 2.0 Experimental und Gemini 2.0 Flash Thinking Experimental. Umgesetzt wurden die Toolanfragen von Mark Spektor am 21.01.2025.
Ohne KI-Tool haben Marianne Saam und Mark Spektor den Text final überarbeitet.
Quellen
- Reinmann, G., Saam, M., & Spektor, M. (2024). Episode 14: Experimentieren mit KI in der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre [Audiotranskription, genutzt in KI-Tools mit Zustimmung von Gabi Reinmann, Marianne Saam und Mark Spektor]. Universität Hamburg. Abgerufen von https://www.hul.uni-hamburg.de/selbstlernmaterialien/profcast/14-ki-in-der-wiso.html
- Spektor, M. (2024). Online-Austausch zum Thema „Welche Rolle spielen ChatGPT und andere AI-Dienste in der Lehre? Gibt es dazu schon Vorgaben/Best Practices an Ihren Hochschulen?“ Erfahrungen in einem Interdisziplinären Grundkurs an der Uni Hamburg [Online-Vortrag]. Abgerufen von https://www.zbw.eu/fileadmin/pdf/veranstaltungen/2024/spektor-erfahrungen-ki-integration-lehre.pdf
- Spektor, M. (2024). Notizen zum Kursfeedback im IGK [Unveröffentlichtes Manuskript].
- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft. (2023). Ein Praxisbericht von Mark Spektor aus dem Forschungsbereich „Digitale Wirtschaft“. In Jahresbericht 2023 (S. 39–41). Text ohne Bildmaterial genutzt in KI-Tools mit Zustimmung von Doreen Siegfried, ZBW. Abgerufen von https://www.zbw.eu/fileadmin/pdf/ueber-uns/jb-2023.pdf
Mehr:
KI-Werkzeuge im Interdisziplinären Grundkurs. Praxisbericht von Mark Spektor
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